Vom Wachsen und Tanken – oder: Wenn der Mensch zum Tumor wird

Krebs beginnt im Kleinen – in einer einzigen Zelle, die ihren natürlichen Takt verliert. Sie hört nicht mehr auf zu wachsen, teilt sich unkontrolliert, ignoriert alle Stoppsignale. Die Reparaturmechanismen versagen, die Balance ist gestört. Was einst Teil eines lebendigen Ganzen war, wird zur Bedrohung des Organismus.

“Krebs ist das Ergebnis einer Zelle, die vergessen hat, wann genug ist.
Und manchmal scheint es, als hätten wir Menschen das auch vergessen.”

Krebszellen verhalten sich parasitär: Sie entziehen ihrer Umgebung Ressourcen, ohne zurückzugeben. Sie tarnen sich, tricksen das Immunsystem aus, bauen sich eigene Versorgungsnetze. Und sie wachsen weiter. Immer weiter. Bis sie das zerstören, wovon sie selbst abhängig sind.

Was in der Medizin als Krankheit gilt, könnte auch als Spiegel dienen. Denn manchmal verhält sich der Mensch als Ganzes nicht viel anders.

Krebs ist nicht nur eine Krankheit – er ist eine Metapher. Eine Zelle, die sich dem natürlichen Gleichgewicht entzieht. Die nicht mehr aufhört zu wachsen, obwohl es längst genug wäre. Die ihre Umwelt vergiftet, um selbst zu überleben. Die sich unabhängig macht von dem, was sie umgibt – und gerade dadurch das Ganze zerstört.

Und was, wenn wir genau dieses Muster auch in unserer Art zu leben, zu wirtschaften und zu konsumieren wiederfinden? Was, wenn ganze Systeme – Wirtschaft, Politik, Gesellschaft – dem gleichen Prinzip folgen: Wachstum ohne Maß. Versorgung ohne Rückkopplung. Nutzen ohne Rücksicht. Vielleicht ist Krebs nicht nur eine Krankheit des Körpers. Vielleicht ist er das Symbol einer Kultur, die vergessen hat, was genug ist.

Der Mythos vom endlosen Wachstum

Wachstum braucht Energie – wir tanken permanent nach. Kapital, Daten, Aufmerksamkeit, Ressourcen. Doch je mehr wir aufnehmen, desto hungriger wird das System. Wie ein Tumor, der seine Umgebung verschlingt, um weiterzuleben.

Unsere Wirtschaft basiert auf einer Idee, die im Kern absurd ist: dass unendliches Wachstum in einer endlichen Welt möglich sei. Börsenkurse sollen steigen, Unternehmen jedes Jahr mehr Umsatz machen. Staaten bauen auf dem Versprechen, dass wir immer mehr erwirtschaften, konsumieren und verwerten…

  • um Systeme zu finanzieren, die ohne Wachstum nicht überleben,

  • um Schulden zu tilgen, während wir fröhlich neue machen,

  • um Arbeitsplätze zu sichern, die vor allem das System am Laufen halten

  • und um Steuern zu senken – für die, die ohnehin am meisten profitieren.

Doch dieses System kennt keine Bremse. Kein natürliches Stoppsignal. Kein „Es reicht“. Es ist wie bei einer entarteten Zelle: Der Code ist beschädigt – und das Wachstum wird zum Selbstzweck.

Gesellschaft im Tumor-Modus

Was in der Biologie der bösartige Tumor ist, zeigt sich gesellschaftlich in anderer Form:

  • Lohnexzesse, bei denen Manager:innen das 300-Fache ihrer Mitarbeitenden “verdienen” – während Pflegekräfte, Lehrer:innen und Erzieher:innen um Anerkennung kämpfen.

  • Ausbeutung von Ressourcen, bei der Wälder, Meere und Böden geplündert werden, als gäbe es kein Morgen.

  • Systeme, die nur durch ständiges Wachstum überleben – Altersvorsorge, Rentensysteme, Immobilienmärkte, Energieversorgung.

“Immer mehr. Immer schneller. Immer weiter. Doch wohin?”

Die Natur kennt Balance – wir nicht?

Die Natur ist kein naives Idyll, aber sie kennt Maß. Wo ein Tier stirbt, entsteht neues Leben. Wo ein Baum fällt, entsteht Licht für junge Triebe. Wir hingegen reißen Wälder ab, um Monokulturen anzubauen. Wir fischen Meere leer, weil der Markt ruft. Wir pumpen fossile Energie aus dem Boden, weil „Wachstum“ es verlangt. Und wir nennen es Fortschritt. Aber mal ehrlich: Stimmt da nicht etwas Grundsätzliches nicht?

Ein Wald wächst nicht unbegrenzt. Ein Körper hört auf zu wachsen, wenn er ausgewachsen ist.

Wachstum ist dort eingebettet in Zyklen – in Entstehung, Reifung, Verfall und Erneuerung. In Rhythmen, die auf Ausgleich beruhen.

Was wäre, wenn wir die Natur nicht als Ressource, sondern als Lehrmeisterin sehen würden?

Gier ist kein Zufall – sie ist System

Warum fällt es uns so schwer, uns zu mäßigen? Weil Gier kein individueller Fehler ist – sie ist Teil eines kollektiven Programms. Einer Erzählung, in der Erfolg mit Besitz, Wachstum mit Glück und Macht mit Fortschritt gleichgesetzt wird. Diese Narrative sind tief in unseren Institutionen, Schulen, Medien und Unternehmen verankert. Und sie stabilisieren die Macht jener, die vom Status quo profitieren.

Ein System, das sich selbst erhalten will, belohnt die, die es am meisten füttern – egal, welchen Schaden sie dabei anrichten. Und es bestraft jene, die in Alternativen denken: Degrowth, Gemeinwohl-Ökonomie, Kreislaufwirtschaft, Suffizienz – all das klingt gut, solange es keine reale Macht entfaltet. Dann wird es belächelt, ignoriert oder bekämpft.

Spiral Dynamics: Wenn Wachstum reift

In der Sprache von Spiral Dynamics könnte man sagen: Wir stecken strukturell noch tief in einem orange-blauen System – mit grünen Sprenkeln an der Oberfläche. Erst wo Grün wirklich Systeme verändert, statt nur Dekoration zu sein, beginnt der Übergang. Wenn wir lernen, diese Muster zu transzendieren, entsteht Raum für echte Entwicklung: für ein „gelbes“ Bewusstsein, das Komplexität integriert, Systeme als Ganzes sieht und Verantwortung neu denkt.

Dazu gehört auch ein neues Verhältnis zu Wachstum:

  • Wachstum als Reifung, nicht als Expansion.

  • Wachstum nach innen, nicht nur nach außen.

  • Wachstum, das Maß kennt – weil es eingebettet ist in etwas Größeres.

Die Frage, die wir uns stellen müssen 

Wenn wir nicht aufpassen, werden wir selbst zu dem, was wir in der Medizin zu bekämpfen versuchen: ein Tumor auf diesem Planeten. Eine Spezies, die sich vom Rest abkoppelt, um sich selbst zu überleben – und dabei alles andere mit in den Abgrund reißt.

“Stehen wir vor dem Ende – oder an einem Übergang?”

Unser Planet ist nicht nachtragend. Aber er ist beschränkt. Und er zeigt es. Vielleicht ist genau das unser Moment, innezuhalten. Uns neu zu verorten. Uns zu erinnern, dass wir Teil von etwas Grösserem sind – nicht dessen Herrscher – und Wachstum wieder in Beziehung setzen: Zur Welt. Zur Natur. Zu uns selbst. Vielleicht ist das der erste Schritt zur Heilung.

Einladung zum Mitdenken

Dieser Text ist keine Anklage, sondern ein Impuls. Kein endgültiges Urteil, sondern eine Einladung zur Reflexion:

  • Wo folgen wir unbewusst dem Dogma des „Immer mehr“?

  • Welche Geschichten über Erfolg und Wachstum erzählst du dir – und deinen Kindern?

  • Welche Alternativen sind denkbar – ganz konkret, in unserem Alltag, in Organisationen, in der Politik?

Vielleicht beginnt Veränderung genau dort: Nicht mit einem Masterplan, sondern mit ehrlicher Irritation. Mit dem Mut, unbequeme Fragen zuzulassen. Mit dem Blick über den Tellerrand hinaus.

Wenn dich dieser Gedanke beschäftigt oder bewegt – teile ihn. Ergänze ihn. Widersprich ihm. Aber vor allem: Denk mit.

Denn das ist, was wir heute brauchen. Nicht mehr Wachstum. Sondern mehr Bewusstsein. Mehr Gelb.

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